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7.7.22

Yannis Ritsos - Vielleicht, eines Tages

 


Yannis Ritsos

Vielleicht, eines Tages

Ich möchte dir diese rosa Wolken in der Nacht zeigen.
Du siehst aber nichts. Es ist Nacht – was kann man da schon sehen?

Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mit deinen Augen zu sehen, sagte er,
damit ich nicht allein bin, damit du nicht allein bist. Und tatsächlich 
ist da nichts, da drüben, wo ich hinzeige.

Nur die Sterne drängen sich in der Nacht zusammen, müde, 
wie Leute, die im Lastwagen von einem Picknick zurückkommen, 
enttäuscht, hungrig, niemand singt, 
mit verwelkten Wildblumen in den verschwitzten Handflächen.

Aber ich werde darauf bestehen, zu sehen und dir zu zeigen, sagte er, 
denn wenn du nichts siehst, wird es so sein, als sähe auch ich nichts –  
ich werde wenigstens darauf bestehen, nicht mit deinen Augen zu sehen – 
und vielleicht werden wir eines Tages aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander treffen.

Titel des griechischen Originals: Ίσως μια μέρα. Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz (© 2022). 

Photo by Nacho Rochon on Unsplash

20.9.20

Yannis Ritsos - Vollständigkeit, beinahe

 VOLLSTÄNDIGKEIT, BEINAHE

Weißt du, den Tod gibt es nicht, sagte er zu ihr.
Ich weiß, ja, jetzt, nachdem ich tot bin, antwortete sie.
Deine zwei Hemden sind gebügelt und in der Schublade,
das einzige, was ich vermisse, ist eine kleine Rose.

– Yannis Ritsos

Übertragen von Johannes Beilharz. Titel des griechischen Originals: ΣΧΕΔΟΝ ΠΛΗΡΟΤΗΤΑ.

Internationale Lyrik in deutscher Übersetzung


13.9.13

Yannis Ritsos: Danke


Danke

Du hörtest deine Stimme sagen: Danke –
(so unerwartet, stumme Natürlichkeit) – jetzt war’s dir gewiss:
ein großes Stück Ewigkeit gehörte dir.

– Yannis Ritsos (1909-1990)

Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz (© 2013)

[Titel des griechischen Originals: Ευχαριστία. Aus: Ritsos in Parenthesis, Princeton University Press 1979]

11.10.10

Yannis Ritsos / Heilung

Die Nächte gingen sehr dunkel vorbei.
Gewaltige Schreie liefen im Wind.
Am nächsten Tag erinnerten wir uns an gar nichts.
In der Zeit klaffte ein tiefes Loch.

Da, wo der Wolf sich eingenistet hatte,
blieb ein Schlagloch, mit warmem Wolfshaar ausgekleidet.
Jetzt könnte sich dort ein Schaf hinlegen.

– Yannis Ritsos (1909-1990)

Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz (© 2010)

[Titel des griechischen Originals: Επουλωση. Aus: Ritsos in Parenthesis, Princeton University Press 1979]

3.10.10

Yannis Ritsos / Tischkalender

Monate und Monate, Wochen, Tage – unlernbares Jahr.
April mit kurzsichtiger Brille auf der Gartenbank.
Juli verbietet dir, allein zu schlafen.
September erinnert sich an verschlossene Häuser –
zwei Papierblumen und ein schwarzer Kamm mit groben Zähnen auf dem Tisch.
Im November hält ein Mann einen Stein auf dem Knie.
Januar, Februar – alle sind im Ausland.
Der Wind macht verzweifelte Gesten
vor der Glastür des geschlossenen Hotels.
Dann erscheint die stille Reinemachfrau frühmorgens
mit einem Schwamm, um die Fenster zu putzen.

– Yannis Ritsos (1909-1990)
Ins Deutsche übertragen von Johannes Beilharz (© 2010)

[Titel des griechischen Originals: Επιτραπεζιο Ημερολγιο. Aus: Ritsos in Parenthesis, Princeton University Press 1979]

Nachbemerkung des Übersetzers
Wie kam ich dazu, heute dieses Gedicht zu übersetzen? Bei einem Gang durch die Wohnung fiel mir auf, wie verstaubt Ritsos in Parenthesis im Regal war, nahm das Buch mit, staubte es ab, schlug es planlos auf der Seite mit diesem Gedicht auf, las es und beschloss, es zu übersetzen. Es schien mir sehr gut zu dem heutigen goldenen Herbst-Sonntag zu passen.