12.12.07

Über die Schwierigkeit, nach Celan in deutscher Sprache Gedichte zu schreiben

Es ist schwer, nach Paul Celan in deutscher Sprache Gedichte zu schreiben. Er hat die Moderne an ihr Ende geführt, und seine radikale Ästhetik, das Unsagbare doch noch einmal sagbar zu machen, lässt keine Weiterentwicklung zu.

– Helmut Böttiger (aus dem 2001 in Die Zeit erschienenen Artikel "Die Liebe, zwangsjackenschön")
Eine solche Aussage ist, normale Menschen mit Ausnahme von Literaturwissenschaftlern werden mir beistimmen, absoluter Schwachsinn.

Wie unschwer jeder für sich selbst feststellen kann, entstehen tagtäglich, völlig ohne Schwierigkeit, tausende Gedichte, und seien es nur neue Varianten von "Rosen sind rot, Veilchen sind blau", in irgendwelchen SMS, unter irgendwelche Brücken gesprüht, in einem Wust alljährlich erscheinender neuer Gedichtbände und Zeitschriften und im Internet.

Vielleicht werden es ja sogar die anspruchslosen Gedichte sein, die die Moderne an ihr Ende führen – an ein Ende allerdings, das sich nicht durch radikale Ästhetik, sondern durch einen radikalen Mangel an Ästhetik auszeichnet.

Das Unsagbare ist übrigens per Definition unsagbar; alles, was darüber gesagt werden kann, kann demzufolge allerhöchstens Annäherung sein, falls man ja tatsächlich das Unsagbare sagen wollen sollte (und nicht das Sagbare, was eigentlich verständlicher wäre). Selbst Celan konnte das Unsagbare nicht noch einmal sagbar machen, da es ja per Definition noch nie gesagt werden konnte.

Bestenfalls können wir also eine Weiterentwicklung der Annäherung an das Unsagbare (oder sollten wir sagen: das Unsägliche?) erwarten, und die ist per Handy, an Betonwänden, per Gedichtband im Groß- oder Kleinverlag oder im Internet in blühender Wucherung begriffen, ohne sich einen feuchten Dreck um Celan, die Moderne und ihr drohendes oder angeblich bereits erfolgtes Ende zu scheren.

11.12.07

Max Dauthendey / die Welt über Kopf

Im Grund deiner Augen

Im Grund deiner Augen steht meine Welt auf dem Kopf,
Dort lächle ich meinen Feinden zu und küsse dem Tod die Finger.

Klopfe an mit dem warmen Hammer in deiner Brust,
Es ist ein Schatz in meinem Meer. Täglich ging ich hinter dir her,

Sammelte deine Worte und deine Gebärde, zog Gold darum
Und versteckte sie unter roter Erde in einem roten Meer.

– Max Dauthendey

Aus Die ewige Hochzeit – Der brennende Kalender, 1905

Von Max Dauthendey ist im Buchhandel leider kaum etwas nicht Vergriffenes erhältlich. Das antiquarische Angebot ist jedoch erfreulich groß, siehe z.B. Amazon.

On being accused of sour grapes

"You don't need to be a cook to tell whether food tastes good or bad," said Iself to Hisself

10.12.07

Overlong morning haiku

A tingling headache
extending into
imaginary greenery
behind my head


– Iself (© one December morning in 2007)

Spitzköpfiges, gelbhaariges Rätsel von Georg Heym

Spitzköpfig kommt er über die Dächer hoch
Und schleppt seine gelben Haare nach,
Der Zauberer, der still in die Himmelszimmer steigt
In vieler Gestirne gewundenem Blumenpfad.

Alle Tiere unten im Wald und Gestrüpp
Liegen mit Häuptern sauber gekämmt,
Singend den Mond-Choral. Aber die Kinder
Knien in den Bettchen in weißem Hemd.

Meiner Seele unendliche See
Ebbet langsam in sanfter Flut.
Ganz grün bin ich innen. Ich schwinde hinaus
Wie ein gläserner Luftballon.

– Georg Heym (1887-1912)

Dieses Gedicht des "Expressionisten" Heym, irgendwo zwischen Erde und Mond schwebend, mutet eher an wie ein Surrealismus-Vorläufer. Wenn da nicht die Seele wäre... (denn die Surrealisten hatten mit Seele nicht viel am Hut).

26.11.07

Deftige Worte von Goethe

Rezensent

Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last;
Ich hatt just mein gewöhnlich Essen,
Hat sich der Kerl pumpsatt gefressen,
Zum Nachtisch, was ich gespeichert hatt.
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu räsonieren:
»Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.«
Der Tausendsakerment!
Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.

– Johann Wolfgang von Goethe

Anmerkung
Die letzte Zeile dieses Gedichts wird häufig zitiert. Ich hatte sie allerdings noch nie im Kontext des gesamten Gedichts gelesen. Tja, so sind sie manchmal, die Herren (Damen) Rezensenten.

16.11.07

Lohnt es sich, ein wenig lieb zu sein?

Und gleich wird die Frage von Joachim Ringelnatz - einmal in einer nicht satirischen Laune - beantwortet:

Es lohnt sich doch

Es lohnt sich doch, ein wenig lieb zu sein
Und alles auf das Einfachste zu schrauben,
Und es ist gar nicht Großmut zu verzeihn,
Daß andere ganz anders als wir glauben.

Und stimmte es, daß Leidenschaft Natur
Bedeutete im guten und im bösen,
Ist doch ein Knoten in dem Schuhband nur
Mit Ruhe und mit Liebe aufzulösen.

Joachim Ringelnatz (1883-1934)

14.11.07

Gilded gold, painted lily

After publishing a poem with gilded lilies, I wanted to find out what exactly the expression means and from whence it came.

Apparently from Shakespeare, who wrote in King John:

SALISBURY:
Therefore, to be possess'd with double pomp,
To guard a title that was rich before,
To gild refined gold, to paint the lily,
To throw a perfume on the violet,
To smooth the ice, or add another hue
Unto the rainbow, or with taper-light
To seek the beauteous eye of heaven to garnish,
Is wasteful and ridiculous excess.

Which means that the expression is actually an incorrect quote. It is the gold that is gilded, while the lily gets painted, both actions denoting superfluous adornment.

An annotated sailing poem

What shall we do with the sober sailor?
… so early in the morning?

He missed his boat oh no!

He’s been missing a number of boats
Truth be told

Like the rum boat*, the hum boat**,
the society boat***,
the boot boat**** and the new boat*****.

Thank God there’s the old boat

To which he is used
At least that

– "Sloop" John B. (© 2007)

* Otherwise there would be no complaining about sobriety
** Otherwise there would be song
*** Otherwise there would be company, including three marvelously gilded lilies most likely
**** Always good for a kick in the you know what
***** That is yet to emerge

23.10.07

Poetically offended

“The fact of my future death offends me,”
wrote poet & blogger Reginald Shepherd

Much worse: it will eventually kill him.

(More of Shepherd's musings can be read at reginaldshepherd.blogspot.com.)

25.9.07

Alfred Lichtenstein: Mädchen

Mädchen

Sie halten den Abend der Stuben nicht aus.
Sie schleichen in tiefe Sternstraßen hinaus.
Wie weich ist die Welt im Laternenwind!
Wie seltsam summend das Leben zerrinnt . . .

Sie laufen an Gärten und Häusern vorbei,
Als ob ganz fern ein Leuchten sei,
Und sehen jeden lüsternen Mann
Wie einen süßen Herrn Heiland an.

– Alfred Lichtenstein (1889-1915)

Ein eigenartiges Verhalten, das Lichtenstein da beobachtet. Machen das die Mädchen heutzutage auch noch so?

21.9.07

Norbert Stockhus: Malerei und Grafik in Bad Cannstatt

Norbert Stockhus: Graben 06 (Acryl auf Leinwand, 50 x 65 cm)

Ausstellung in der
Galerie Kunsthöfle

Foyer Amtsgericht
Badstraße 23
Stuttgart Bad-Cannstatt

Dauer der Ausstellung:
29.9. bis 5.11.2007
Öffnungszeiten:
Mo-Fr 8.00 bis 17.00 Uhr

Vernissage:
Freitag, 28.9.2007
um 19.30
Begrüßung: Irene Schmid
Einführung: HP Schlotter

Der Künstler ist anwesend

Sie und Ihre Freunde sind herzlich eingeladen

Über Norbert Stockhus

Gefördert vom Kulturamt der Stadt Stuttgart

18.9.07

Goethe & Schillers Schädel

Goethe fühlt sich, nach Ausgrabung von Schillers Schädel zwanzig Jahre nach dessen Tod, bewegt zu dichten

Oh hohe Stirn, edler Gedanken Hort,
oh tiefe Augenhöhlen, die ihr einst geschaut,
oh Kieferknochen, der du nur so kurz gekaut:
oh hohe Backenknochen und so fort,

euch hab ich heut aus diesem Grab gehoben:
der Geist verbleibt, der Körper ist zerstoben.

Johannes Beilharz (© 2003)

Anmerkung
Zu diesem Gedicht ließ ich mich 2003 hinreißen, als mir meine Tochter, die gerade zum Abitur “Kabale und Liebe” las, erzählte, dass Schiller, im Gegensatz zur geschönten öffentlichen Darstellung, nicht besonders gut aussah, und dass Goethe nach 20 Jahren den Schädel ausgraben ließ und ein Gedicht dazu machte.
Erinnert an diese Sache wurde ich neulich wieder durch einen Beitrag von Ursula Sautter im Time Magazine zum Thema: "Skull scratcher. Two centuries after a great German poet's death, a mystery over his remains is coming to a head".

4.9.07

Unter Buchen – ein Gedicht von Max Dauthendey

Im Buchenwald

Du gehst tief auf dem goldenen Grunde der Seen.
Lautlos steigen in Strahlen graue Korallen,
Fließen Phosphorfeuer von grünen Kristallen,
Sinken Perlen auf den braunwelken Grund.

Draußen von silbernen Sonnenufern
Neigen sich Glocken
Und locken mit blauen Kelchen
Die smaragdene Tiefe.

– Max Dauthendey (1867-1918)

Aus: Ultra-Violett (1893)

Diese kleine Perle deutscher Lyrik kam heute morgen mit der Lyrikmail. Als Bürger der Buchenwaldstadt Stuttgart fühlte ich mich natürlich sofort angesprochen.
Kann man den Buchenwald so erleben wie Dauthendey? Ich denke schon. Er hat ein visionäres Bild geschaffen, das den Buchenwald nicht beschreibt, sondern ihn durch eine erlebte magische Stimmung assoziativ wiedergibt.

28.8.07

Ulrike und das tröpfelnde Glas

Nahezu ein Poetron-Gedicht*

Übrige Schneen

Unter entbehrlicher Hose
saubere Körper und ein Rabe

Karierte Muskeln schmelzen so leis
Ulrike und das tröpfelnde Glas

– Poetron (Copyright 2007)

*Ein paar Wörter in den Poetron gefüttert, und fertig ist das Gedicht. Allerdings nicht immer grammatikalisch richtig. Die "Schneen" habe ich suggestiv stehen lassen.

Einladung an die Leserschaft:
Dieses wunderbare Werk darf gern interpretiert werden.